Posttraumatische Belastungsstörung nach Abtreibung

(Post Abortion Syndrom)

Von Dr. med. Angelika Pokropp-Hippen
Fachärztin für Allgemeinmedizin, Psychotherapie, Traumatherapie, Naturheilkunde und Homöopathie

Im folgenden Text wird das Post Abortion Syndrom (Folgeerkrankung nach Abtreibung) als eine Form der Posttraumatischen Belastungsstörung dargestellt. Im ersten Teil wird die Posttraumatische Belastungsstörung mit ihren diagnostischen Kriterien verdeutlicht. Im zweiten Teil folgen die Definition und die Symptome des Post Abortion Syndroms sowie eine Fallvorstellung.

1.  Die Posttraumatische Belastungsstörung

1.1  Definition der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)

Die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) ist eine durch Traumatisierung (physisch, psychisch) ausgelöste Angsterkrankung mit Störungen von körperlichen und seelischen Funktionen mit Krankheitswert.(1)

1.2.  Die Posttraumatische Belastungsstörung: Diagnose nach DSM IV

Die Person wurde mit einem traumatischen Ereignis konfrontiert, bei dem die beiden folgenden Kriterien vorhanden waren:

  • Die Person erlebte, beobachtete oder war mit einem oder mehreren Ereignissen konfrontiert, die tatsächlichen oder drohenden Tod oder ernsthafte Verletzung oder eine Gefahr der körperlichen Unversehrtheit der eigenen Person oder anderer Personen
  • Die Reaktion der Person umfasste intensive Furcht, Hilflosigkeit oder Entsetzen(2)

1.3  Diagnostik der Posttraumatischen Belastungsstörung

Zur Diagnostik der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD) gehören vier Gruppen von Symptomen(3), welche sich nach einem traumatisierenden Ereignis einstellen und über mindestens vier Wochen bestehen bleiben.

1.3.1  Intrusion (Aufdrängung, Störung)

  • Unwillkürlich wiederkehrende Erinnerungen an das Trauma
  • Alpträume
  • Psychische Stressreaktion bei Konfrontation mit Trigger-Reizen (= auslösende Reize)
  • Physische Stressreaktion bei Konfrontation mit Trigger-Reizen

1.3.2  Vermeidung

  • Vermeidung von Gedanken, Gefühlen, Erinnerungen zum Trauma Kontext
  • Vermeidung entsprechender Reize in Medien ( z.B. Zeitungen, Fernsehen)
  • Versuch, das Geschehene zu verdrängen
  • Dissoziative Störungen
  • Teilamnesie oder komplette Amnesie für den Vorfall / die Vorfälle
  • Zusammenhang der Störungen mit dem Trauma oft nicht bewusst

1.3.3  Numbing (Betäubung)

  • Emotionale Abstumpfung, Isolation
  • Teilnahmslosigkeit, kein Mitgefühl für andere
  • Sozialer Rückzug, Suchtgefahr
  • Verlust sozialer Beziehungen, Partnerschaft, Ehe
  • Depressions- und Suizidgefahr

1.3.4  Hyperarousal (Übererregung)

  • Hypervigilanz (überwach / angstbedingte Katecholaminausschüttung)
  • Ein- und Durchschlafstörungen
  • Konzentrationsstörungen
  • Emotionale Labilität, erniedrigte Schwelle für aggressive Ausbrüche
  • Gesteigerte Schreckhaftigkeit

1.4  Häufigkeit und Dauer der Posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD)

Die Häufigkeit der PTSD beträgt in der Allgemeinbevölkerung ca. sechs bis acht Prozent. Neue Studien aus den USA(4) geben Hinweise auf eine Prävalenzrate (Verbreitung) von zwölf bis vierzehn Prozent in der Bevölkerung.

Die akute PTSD zeigt den Beginn der Symptome innerhalb von ein bis drei Monaten nach dem Trauma. Die chronische PTSD wird durch Symptome typischerweise mehr als drei Monate nach dem Trauma deutlich. Die PTSD mit verzögertem Beginn ist häufig besonders schwer in ihrem Zusammenhang mit dem Trauma zu diagnostizieren, da die Symptome erst sechs Monate bis Jahre nach der oder den traumatisierenden Erfahrungen beginnen.

Die Dauer der Erkrankung ist höchst unterschiedlich und kann Monate, Jahre oder Jahrzehnte betragen. Auch die Kombination und Ausprägung der Symptome kann abhängig von verschiedenen Faktoren wie individuellen Charaktereigenschaften, Beginn, Häufigkeit und Schwere der Traumatisierung sowie vorhandener oder fehlender Unterstützung im psychosozialen Umfeld höchst unterschiedlich sein.

1.5  Verteilung und Folgen der PTSD

Auffällig ist die unterschiedliche Geschlechterdisposition von zwei zu eins (Frauen:Männer)(5). Hier spielt die höhere Gefährdung der Mädchen und Frauen in Hinblick auf eine sexuelle Traumatisierung sicher eine große Rolle. Auch Fehl- und Totgeburten sind in ihrer traumatisierenden Bedeutung bislang noch zu wenig beachtet worden. Bei einer zunehmenden Häufigkeit der durchgeführten Abtreibungen ist hier ein weiterer wesentlicher Faktor für den Überhang von Frauen, welche an einer PTSD in Form des Post Abortion Syndroms leiden, gegeben.

Insgesamt wurde festgestellt, dass der wesentlichste Auslöser einer PTSD, einer traumatischen Folgeerkrankung, durch die Verletzung des Menschen durch den Menschen hervorgerufen wird („man made trauma“). Keine Naturkatastrophe hinterlässt so verheerende Folgen in der menschlichen Seele, wie es die Traumatisierungen durch Menschen bewirken kann. In diesem Zusammenhang kommt auch dem Begriff der „sozialen Kälte“ eine wichtige Bedeutung zu.

Die Verletzungen an Leib und Seele hinterlassen tiefe Spuren. Bei vom PTSD betroffenen Menschen ist die Gefahr, sich das Leben zu nehmen, also die Suizidalität, fünfzehn bis zwanzigfach gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht. Man spricht von einer entsprechend erhöhten Komorbidität. Entsprechend zeigt die Depressionswahrscheinlichkeit gegenüber der Allgemeinbevölkerung eine Wahrscheinlichkeit der Erhöhung um fünfzig Prozent. Durch den Versuch, eine innere Pseudodistanz oder Flucht vor den quälenden inneren Bildern und Erfahrungen als Folge der Traumatisierung zu erreichen, ist auch die Wahrscheinlichkeit, an einer Abhängigkeit von Alkohol, Drogen oder Medikamenten zu erkranken, bis zu 80 Prozent gegenüber der Allgemeinbevölkerung erhöht. (6)

1.6.  Neuroanatomie und Neurophysiologie der traumatischen Reaktion

Was geschieht neuroanatomisch bei einer Traumatisierung. Im Folgenden möchte ich kurz auf diese Zusammenhänge eingehen, da nur so Phänomene wie flash backs, Dissoziation und weitere psychovegetative Symptome nach einer Traumatisierung verständlich sind.

Eine zentrale Bedeutung nimmt das limbische System bei der Verarbeitung und Beantwortung von Reizen ein. Der Thalamus ist eine Art Relaisstation im Diencephalon (Zwischenhirn) und besteht aus vielen Kerngebieten. Er hat besonders starke Verbindungen zum gesamten Gehirncortex (Hirnrinde). Um sich sensorisch-sensibler Informationen bewusst zu werden, müssen die aufsteigenden Bahnen auf dem Weg zum Cortex im Thalamus verschaltet werden. Er wird deshalb als „Tor zum Bewusstsein“ bezeichnet. Der Thalamus kann auf schnellstem Wege Informationen an die Amygdala (Mandelkern) im medialen Teil des Temporallappens (Schläfenlappens) weiterleiten.

Die Amygdala ist in mehrere Kerngruppen gegliedert und erhält über Faserverbindungen zahlreiche Informationen aus anderen Hirnzentren. Hier werden sensorische Informationen wie Bilder, Töne und Gerüche, Temperatursignale, Tasteindrücke etc. mit Gefühlen wie Angst, Wut, Freude oder Glück verbunden. Beispielsweise wird der eine Mensch beim Anblick eines Hundes (sensorische Information) Freude (emotionale Färbung der Information) empfinden. Ein anderer Mensch wird auf die gleiche Sensorische Information mit ängstlicher Abwehr reagieren.

Die Amygdala Region ist wesentlich an der Entstehung von Angst und der Ausschüttung von Stresshormonen und stressassoziierten Neurotransmittern beteiligt. Im Tierversuch zeigte sich, dass die Zerstörung der Amygdala die Fähigkeit zur Angstentwicklung mit sich bringt. Was geschieht nun in einer Gefahrensituation? Hier greift das Gehirn unter Ausschaltung der entwicklungsgeschichtlich jüngeren Regionen des Hirncortex auf entwicklungsgeschichtlich ältere Anteile zum Zweck der Zeitersparnis zurück, was in einer Gefahrensituation lebensrettend sein kann. Diese „fight or flight“-Impulse aktivieren eine Kaskade von Stressreaktionen und die Mobilmachung des ganzen Körpers. Der Hypothalamus steht als Reglerzentrale für nervöse vegetative Vorgänge in diesem Kontext in enger Wechselbeziehung mit der Hypophyse.(7)

Hat die Amygdalaregion die emotionale Markierung wichtiger Ereignisse im Sinne des impliziten/emotionalen Gedächtnisses vorgenommen, werden sie an den Hippocampus weitergeleitet, wo sie im expliziten/verbalen Gedächtnis im Sinne einer „cognitive map“ (Erkennungskarte) bis zu zwei Jahre gespeichert werden. Man könnte den Hippocampus als eine Art Festplatte für das Kurzzeitgedächtnis bezeichnen. Je nach Input vom Frontalhirn, welches für Integration und Planung zuständig ist, werden die Erinnerungen weiter verfestigt.

1.6.1  Funktionsschema (vereinfacht)

PAS-Funktionsschema_c_Pokropp-Hippen

1.6.2 Neuropathologie der Traumatisierung

Bei einem das Leitungssystem überfordernden traumatischen Ereignis ist die Übertragung der Nachrichten zwischen Amygdala und Hippocampus gestört. Es kommt zu flash backs, Ängsten und Schlafstörungen. Kernspintomographische Untersuchungen bei Vietnam Veteranen mit posttraumatischer Belastungsstörung zeigten eine Verkleinerung des Hippocampus von 5 bis 25 Prozent gegenüber gesunden Personen sowie die Erniedrigung eines chemischen Markers ( N-Acetylaspartat) um 23 Prozent in der Kernspin-Protonenspektroskopie (bildgebendes Verfahren) als Hinweis für Schäden an Nervenzellen. Diese Befunde fand man auch bei missbrauchten Kindern im Hippocampus.(8)

Eine bedrohliche Situation wird also zunächst von der Amygdala festgestellt. Dies geschieht automatisch und ohne Zutun des Großhirns. Die Entscheidungsfindung zwischen Amygdala und Hippocampus wird schlichtweg gekappt. Große Teile der Nachrichten werden gar nicht an das explizite/verbale Gedächtnis weitergeleitet, sondern vom impliziten/emotionalen Gedächtnis gesteuert. Durch diese Trennung wird die Reaktionszeit stark beschleunigt. Wo das Großhirn einige Sekunden zur Informationsverarbeitung benötigen würde, kann durch die beschriebene Umvernetzung die Entscheidung über Flucht oder Verteidigung sehr viel schneller gefällt werden. Der Vorteil kann in der Lebensrettung liegen. Der Nachteil dieser Unterbrechung liegt in der Dissoziation. Dies bedeutet, verschiedene Gehirnteile stehen nicht mehr miteinander in vollem Kontakt, wie oben in der traumatischen Situation beschrieben. Kommt es posttraumatisch zur Entwicklung einer PTSD, kann das unwillkürliche überschwemmt Werden des Bewusstseins mit Bildern, Körpergefühlen und fragmentierten Erinnerungssequenzen (flash back) sowie das Gefühl, außerhalb des Körpers „neben sich zu stehen“ (Dissoziation) die Folge sein. Was im Trauma der Lebensrettung dienen sollte, wird nun zu einem Symptom mit Krankheitswert.

Die traumatische Situation wird wie beschrieben anormal im Gedächtnis gespeichert. So kann es im Tagesbewusstsein zu flash backs (Rückversetzung) in die Trauma Situation kommen. Diese treten am häufigsten visuell auf, absteigend häufig folgen Körpersensationen, Geräusche und Gerüche. Nachts stellen sich oft angstgefärbte Alpträume ein. Traumatische Erinnerungen sind in der Regel bruchstückhaft und in Form von emotional gefärbten Bildern gespeichert. Das Bruchstückhafte solcher traumatischen Erinnerungen wird von den Betroffenen häufig als Mangel z.B. in der Beweisführung bei der Rekonstruktion einer Traumatisierung angesehen. Tatsächlich spricht die fragmentierte Erinnerung aber eher für die Authentizität des Erinnerten. Bei flash backs, dem überschwemmt werden von traumatischen Erinnerungsbildern, wie es sich spontan oder in einer Psychotherapie ereignen kann, ist die Gefahr der Retraumatisierung gegeben. Bei Personen, welche experimentell mit ihrem Trauma Bericht konfrontiert wurden, zeigte sich, dass häufig das in der linken Gehirnhemisphäre (Gehirnhälfte) gelegene motorische Sprachzentrum vorübergehend inaktiv blieb. Es entstand der Zustand von „speechless terror“, vom sprachlosen Terror, von welchem Trauma Opfer immer wieder berichten.(9)

Ziel der Traumatherapie ist es, die bildlich – emotionale (implizites Gedächtnis) und verbale Erfahrungsebene (explizites Gedächtnis) der traumatischen Erfahrung wieder miteinander zu verbinden und sie aus dem „speechless terror“ zu befreien. Dies kann im Laufe der Therapie zu einer Neuausbildung von Neuronen führen, welche die geordnete Abfolge von integrierter Erinnerung wieder ermöglichen.

1.7 Die katathym-imaginative Psychotherapie (KiP) und die katathym-imaginative Psychotraumatherapie (KiPt)

Das Katathyme Bilderleben, wie die Methode zunächst hieß, wurde erstmals 1954 von dem Göttinger Arzt und Psychoanalytiker H.K. Leuner publiziert. Er entwickelte eine Systematik von Bildmotiven, welche auf der Symbolebene verdrängte emotionale Konflikte über das Bild und das zum Bild gefundene Wort bewusstseinsnah der Verarbeitung zugänglich machen. Psychodynamische Prozesse und unbewusste Konflikte sowie Traumatisierungen können so tiefenpsychologisch fundiert unter Nutzung der Übertragungsbeziehung effektiv in das therapeutische Geschehen integriert werden. Da das Bild wie beschrieben die häufigste physiologische Variante der emotionalen Abspeicherung ist wie wir von Nachtträumen wissen, wird hier eine dem physiologischen Vorgang nahe Tagtraumtechnik als via regia zur Konfliktbearbeitung genutzt. Bei der Trauma therapeutischen Arbeit wird Ich- stützend und Ich- stabilisierend unter Vermeidung einer Retraumatisierung ressourcenorientiert eine Matrix geschaffen, um traumatische Ereignisse soweit den therapeutischen Zielen nützlich schrittweise bewusst und integrierbar zu machen.

Es gibt andere psychotherapeutische Verfahren, um erlittene Traumatisierungen zu bearbeiten. Ziel aller Methoden muss sein, die traumatisierte Person möglichst weitgehend zu stabilisieren und dem individuellen Lebenskontext gemäß zu einer Integration der Traumatisierung zu führen.

2.  Das Post Abortion Syndrom (PAS) (10)

2.1  Definition

Das Post Abortion Syndrom ist eine seelische Erkrankung nach Abtreibung mit psychosomatischer Symptomatik, die in einem zeitlich variablen Intervall auftritt.(11) Das PAS ist eine Sonderform von PTSD (Post-Traumatic-Stress-Disorder). Der Zusammenhang mit dem Trauma (Abtreibung) wird oft verdrängt. Der Zusammenhang mit körperlichen / seelischen Störungen ist für Betroffene und Helfer (s. PTSD) oft nicht direkt erkennbar.(12)

2.2  Typische seelische Störungen

  • Depressionen (z.T. larviert), Schlafstörungen, Alpträume, Angststörungen, Angst- und Panikattacken,
  • Schuldkomplexe, Beziehungsstörungen ( Scheidung, Überbehüten oder Vernachlässigen geborener Kinder (Post Abortion Surviver Syndrom, Prof. Philip Ney, Kanada), Suchtentwicklung, Psychosemanifestation.
  • Selbstverletzungen, Essstörungen.

2.3  Typische körperliche Störungen:

Psychosomatische Erkrankungen mit Organmanifestation je nach Disposition: z.B. Migräne, Rückenbeschwerden, asthmatische Beschwerden, Herzbeschwerden, Reizmagen, Reiz Darm, Menstruationsbeschwerden, Hauterkrankungen.

Studien zu Risiken und Informationen wie bei jedem anderen Eingriff / Medikament vorgeschrieben, sind im Falle einer Abtreibung mangelhaft. Longitudinalstudien) und Transversalstudien sind dringend geboten.

2.4. Typische Zeiten der Manifestation des PAS:

  • unmittelbar nach der Abtreibung
  • nach einer Phase der vermeintlichen Entlastung Wochen oder Monate nach der Abtreibung
  • um den Geburtstermin des abgetriebenen Kindes
  • zum Tötungstermin = Sterbetag des Ungeborenen
  • bei erneuter Schwangerschaft und Geburt selbst oder im sozialen Umfeld
  • bei schwerer Erkrankung oder Unfall geborener Kinder
  • nach einem Todesfall; das abgetriebene Kind hat kein Grab, sondern wurde als Organmüll entsorgt. Die fehlenden Orte zur Trauer, fehlende Trauerrituale erschweren die Trauerarbeit.
  • nach Trennung oder Scheidung
  • nach dem Auszug der Kinder
  • Klimakterium (Wechseljahre)
  • Konfrontation mit dem eigenen Tod

2.5  Zusammenhang zwischen PTSD und Post Abortion Syndrom

Zahlreiche Symptome von Frauen, welche am Post Abortion Syndrom leiden, finden sich beim Vergleich in den Symptomen der posttraumatischen Belastungsstörung (PTSD). Oft wird das Post Abortion Syndrom als Auslöser der PTSD verschwiegen wie eine typische Auflistung von Traumata und Entwicklung einer PTSD (13) belegt.

In der dargestellten Tabelle kommt der Begriff des Post-Abortion-Syndroms nicht vor. Das PAS wird unter den Rubriken „Irgendein Trauma“ (60% Häufigkeit) oder „Andere Traumen“ beinhaltet. Hier bildet sich ab, was der Schweizer Tiefenpsychologe C. G. Jung (1875 – 1961) mit dem Begriff der „kollektiven Verdrängung“ beschrieben hat.

Für das Jahr 2016 sind dem statistischen Bundesamt rund 96.000 Abtreibungen gemeldet worden. Das entspricht bei rund 250 Werktagen pro Jahr täglich 384 Schwangerschaftsabbrüche. In dieser Zahl ist die Dunkelziffer der nicht gemeldeten Abbrüche nicht enthalten. Bei aufgerundet ca. 400 Schwangerschaftsabbrüchen an jedem Werktag sind täglich ca. ca. 800 Männer und Frauen in die Abtreibung ihrer ungeborenen Kinder involviert.

Hinzu kommen die an den Abtreibungen beteiligten Beraterinnen, die abtreibende Ärzteschaft und das Pflegepersonal. Je nach emotionaler Belastung durch die Abtreibung kommt die Verdrängung scham- und schuld-besetzter emotionaler Inhalte zum Tragen.

Kollektive Verdrängung findet immer dann statt, wenn ein schuld- und scham-besetztes Thema auf diese Weise scheinbar besser ertragen werden kann. Der Preis im Falle des Post Abortion Syndroms liegt in den im deutschen Sprachraum fehlenden wissenschaftlichen Untersuchungen zur Benennung der Folgen der vorgeburtlichen Kindstötung für die Beteiligten. Ohne breite Erforschung der Erkrankungshäufigkeit und Erkrankungsweise der Frauen (und Männer) psychisch und physisch bzw. psychosomatisch nach Abtreibung und Lehre zu diesem Thema wird es jedoch dabei bleiben, dass viele Betroffene die Praxen von Allgemeinmedizinern, Frauenärzten, Orthopäden u.a. aufsuchen und an unspezifischen Symptomen leiden, deren gemeinsamer Nenner weder von den Erkrankten noch von den Ärzten oder Therapeuten zu finden ist.

Auch bei Psychiatern und Psychotherapeuten findet sich die Subsumierung der Symptome unter andere Krankheitsbilder. Dies lässt sich in anamnestischen Gesprächen unter Einbeziehung der Befindlichkeit nach Abtreibungen und der Lektüre von Arztbriefen eruieren. Persönliches Involviert sein in das Post Abortion Syndrom auf therapeutischer Seite kann zu einem Bündnis des Schweigens über die Traumatisierung durch Abtreibung mit den entsprechenden Folgen für den zu erwartenden Erfolg der psychotherapeutischen Arbeit führen. Symptomverschiebung oder psychosomatischen Fixierung können die Folge sein wenn der Fokus der psychischen Erkrankung nicht thematisiert und behandelt wird.

2.6  Falldarstellung zum Post Abortion Syndrom

Ich möchte nun den Fall einer Frau vorstellen, die am PAS leidet. Mit ihr leiden der Mann, welcher ebenfalls Symptome des PAS zeigt und das zum Zeitpunkt der therapeutischen Arbeit wenige Monate alte Kind, welches in der depressiv belasteten Atmosphäre heranwachsen muss.

Im Rahmen der psychotherapeutischen Arbeit bat ich die Patientin zu malen, wie sie sich fühlt. Wie schon beschrieben, sind Emotionen vorwiegend bildlich gespeichert. Das sichtbar Machen dieser inneren Bilder ist ein therapeutischer Schritt, welcher eine erste Distanzierung von der emotionalen Erstarrung im Trauma bedeutet. Im Gespräch über das gemalte Bild werden oft lang zurückgehaltene Gefühle und Assoziationen freigesetzt.

2.6.1  Deutung der Bilder

2.6.1.1 Bild der Patientin

(c) Angelika Pokropp-Hippen

Die Patientin hat sich in einem Käfig ohne Hände und Füße gemalt.

Dies korrespondiert mit dem Erleben der Patientin, nicht mehr auf dem Boden des täglichen Geschehens zu stehen, sondern abgehoben zu sein. Sie hat den Kontakt zum Leben verloren.

Sie kreist, wie sie sagt, 90 Prozent der wachen Zeit um die Abtreibungsthematik und die Schuldzuweisung an sich und an ihren Ehemann. Sie ist depressiv gestimmt, sie hat ihren Antrieb verloren. Dies drückt die Patientin bildlich in den fehlenden Händen aus. Sie kann nicht mehr zufassen, nicht mehr ihr Leben gestalten. Der Mund ist traurig herabgezogen, die Augen schauen wie erschrocken. Die Frau steht in einem roten Hintergrund. „Dies ist das Blut meines ungeborenen Kindes, welches ich vergossen habe.“ So beschreibt sie selbst, was die rote Farbe bedeutet.

Das „Warum, warum haben wir das getan?“ kommt in dem Fragezeichen zum Ausdruck, so sagt sie. Auch die Frage des Ausgangs aus dem Gefängnis von Schuld und Depression ist in dem Fragezeichen symbolisch dargestellt. Unter dem Käfig hat sie ihren Mann gezeichnet. In einer Sprechblase ruft er seiner Frau: „ Ich liebe Dich“ zu, aber seine Worte und ihre Bedeutung kann die Frau nicht annehmen. Im linken Bildteil soll der blaue Weg die gemeinsame Zeit darstellen. Die Sonne links oben, das Paar, darunter die Weltkugel und ein Flugzeug: Erinnerungen an die im Rückblick unbeschwerten Jahre, wo sie ihren Wunscherfüllungen lebten, durch die Welt reisten. Unten links sprechen die lilafarbenen Striche von den Ehejahren. Die dunklen Haken sollen, so die Patientin, verdeutlichen, wie etwas Dunkles immer mehr in ihre Beziehung hinein dringen konnte.

„Eigentlich träumten wir von einem gemeinsamen Haus mit Garten“, so hat es die Patientin im oberen Bildteil gemalt. Die Frage nach den entscheidenden Faktoren für die Abtreibung quält die Patientin zu jeder wachen Stunde. Die Patientin und ihr Ehmann leiden darunter, sich nicht miteinander und vor Gott versöhnen zu können. Als vor wenigen Monaten ein Kind geboren wurde hofften beide, in dem Kind Versöhnung und Neuanfang zu finden. (Ersatzkind)

Das Kind kam nach über 25 Stunden Wehen und Geburtsstillstand durch Sectio zur Welt. Unter der Geburt in den Wehen quälten die Patientin die Gedanken an ihr durch Abtreibung gestorbenes Kind. Sie konnte sich körperlich nicht für das zweite Kind öffnen, wie sie es unter dem Eindruck der ständig sich wiederholenden Schuldphantasien auch seelisch bis heute nicht kann. Hebammen berichten, dass gerade in der Geburtssituation frühere Abtreibungen Thema werden und sie gerne zuvor darüber Bescheid wissen, da mit Komplikationen wie in diesem Fall in einem höheren Prozentsatz zu rechnen ist.

Im Bild sehen wir das Kind im Lichte strahlend, von Gott (die Hand aus der blauen Wolke) geschenkt, vom Storch getragen. Das Kind erreicht die Mutter im Käfig aber nicht, die Eltern können es nicht wirklich empfangen, da sie blockiert sind in Schuldzuweisungen und Streit. Die Mutter liebt das Kind und kann sich nicht an ihm freuen, der Vater liebt das Kind und kann seine Freude nicht teilen. Auch das Kind ist außerhalb des Käfigs, auch die Beziehung zum Kind ist von Anfang an überschattet und gestört durch das fixiert Sein der Mutter auf die Abtreibungsthematik.

So beginnt dann das Post Abortion Surviver Syndrom , die Erkrankung der überlebenden Kinder einer Familie. Oft wissen sie gar nichts von ihrem abgetriebenen Geschwisterkind, ihren abgetriebenen Geschwistern, aber ein Schatten liegt von Anfang an über der Beziehung zwischen Mutter und Kind, zwischen Vater und Kind mit all seinen Folgen für die psychische Gesundheit des geborenen Kindes. Auch das Überbehüten als Folge der Bestrafungsphantasien ist eine typische Post Abortion Reaktion.

Der Anfang dieser Entwicklung wird in der Deutung der Mutter sichtbar, ihr Kind sei als Strafe Gottes erkrankt und ihr stünde so ein gesundes Kind gar nicht zu, als das Kind kurz nach der Geburt für einige Tage in eine Kinderstation verlegt werden musste. Durch Überbehüten wird die natürliche Entwicklung und Expansionskraft des Kindes erneut wie durch einen Käfig blockiert. Im rechten Bildteil sind Paare mit Kindern dargestellt, „ ha ha“ steht daneben. „Die lachen miteinander, die können sich freuen, die lachen mich aus“, so die Patientin.

Auch die sozialen Kontakte zu anderen Müttern und Familien sind blockiert durch das Gefangensein in den kreisenden Gedanken. Die Patientin isoliert sich auch, weil die anderen von der Abtreibung nichts wissen sollen. Dies ist eine typische Vermeidungsreaktion bei Scham- und schuldbesetzter Thematik. Die ganze Familie ist isoliert mit den entsprechenden psychosozialen Folgen. Die Blume rechts unten im Bild hat keine Wurzeln. Die Tulpe soll als Frühlingsblume die Lebensfreude symbolisieren, zu welcher die Patientin keinen Zugang mehr hat. Sie kann den Frühling des Lebens ihres geborenen Kindes nicht mit Freude erleben.

2.6.1.2  Bilder des Ehemanns

Auch der Ehemann hat eine kleine Skizze gezeichnet, um seine Gefühlslage auszudrücken.

(c) Angelika Pokropp-Hippen

Der Ehemann der Patientin leidet ebenfalls an einem PAS mit einem Schwerpunkt bei der Symptomatik von Schuldzuweisungen an sich und depressiv gefärbten Bestrafungsphantasien. Die Untersuchung des Post Abortion Syndroms bei an Abtreibung beteiligten oder durch die Abtreibung ihres Kindes gegen ihren Willen traumatisierten Männern ist noch weiter verdrängt als die Erkrankung der Frauen. Dem Mann gehen Sätze durch den Kopf, wie: „Du bist ein Versager, Du hast Deine Frau und Dein Kind nicht beschützt. Ich verlange, dass ich leide. Du bist ein Feigling, dass Du Dich nicht aufhängst.“

In seiner Skizze hat der Mann links oben seine Frau gezeichnet, wie sie sich ständig selbst verletzt. Er hat dies durch eine Wunde an ihrem Kopf dargestellt. Unbewusst haben beide eine verhängnisvolle Übereinkunft, sich selbst zu quälen und das gequält werden durch den anderen als Bestrafung zu tolerieren. So sind sie im Teufelskreis ihrer Schuldphantasien gefangen. Im zweiten Bild hängt der Mann wie eine Marionette hilflos an der Hand seiner Frau. „Ich komme nicht an sie ran und ich kann mich nicht entfernen.“ Er ist ohnmächtig ihren aggressiven Projektionen ausgeliefert. Da er sich innerlich den Auftrag gab zu leiden, nimmt er die aggressiven Ausbrüche seiner Frau gegen ihn oft stumm und versteinert hin. Die rechte Hand der Frau ist zur Faust geballt und verdeutlicht ihre Wut auf den Ehemann, welche sich in täglichen Kleinkriegen entlädt.

Das linke untere Bild zeigt den Ehemann, wie er versucht, über den steinigen Weg der gemeinsamen Vergangenheit (Abtreibung) mit der gemeinsamen Schuld zum Licht zu gehen, neu zu beginnen. Er versucht, seine

Frau an die Hand zu nehmen, aber sie schaut zurück in die Vergangenheit und kann sich nicht ein Leben (Sonne als Symbol) mit Mann und Kind zugestehen. Unbewusst lebt sie in der Vorstellung, durch ihre Rückkehr in das gelebte Leben ihr abgetriebenes Kind erneut zu verraten.

Im Rahmen unserer psychotherapeutischen Arbeit hat die Patientin die Gedanken, welche ihr immer wieder durch den Kopf gehen, auf meine Bitte hin aufgeschrieben.

2.6.2  Empfindungen der Patientin nach der Abtreibung (wörtliche Zitate)

  • „Ich bin schuldig – wenn man erkennt, dass man das Wertvollste und Beschützenswerteste im Leben preisgegeben hat, sein EIGENES Kind, unschuldig und wehrlos. Es gibt kein größeres Schuldgefühl auf dieser Welt und im Leben eines Menschen.“
  • „Ich bin selbst nichts mehr wert. Mit welchem Recht lebe ich, wenn ich einem anderen dieses Recht verwehrt habe?“
  • „Meine Seele ist entzweit. Ich fühle mich beschmutzt und entwürdigt.“
  • „Ich habe keinen Boden mehr unter den Füssen, keine innere Mitte mehr, drehe mich innerlich nur noch im Kreis.“
  • „Ich leide unter Angst- und Panikzuständen, Angst vor dem weiteren Leben, das täglich aushalten zu müssen. Panik, weil es ein gelebter Alptraum ist, der erst mit dem wach werden beginnt.“
  • „Ich leide unter Schlaflosigkeit, habe das Gefühl, Watte im Kopf zu haben, weil kein anderer Gedanke so stark ist und vorherrscht.“
  • „Keine rechte Freude mehr am Leben. Man nimmt die schönen Dinge nicht mehr richtig wahr, wie den Wechsel der Jahreszeiten, Blumen, ein schöner Sonnenuntergang etc.“
  • „Ich habe das Gefühl, als sei mein Leben gelaufen, als sei ich mit gestorben, damals auf dem Stuhl.“
  • „Das Gefühl, niemals mehr entrinnen zu können. Denn man nimmt sich selbst überall hin mit. Man kann sich vom Partner trennen, der einem das angetan hat. Doch niemals wird man sich selbst los.“
  • „Dauerunruhe und große innere Disharmonie.“
  • „Enttäuschung über den Partner. Man sieht seine Liebe, die man ihm einst entgegenbrachte. Verraten, verkauft. Wofür hat man all die Gefühle investiert? Enttäuschte Hoffnung.“
  • „Man steckt in einem inneren Gefängnis, aus dem man nicht einfach entlassen wird, und man ist alleine, einsam. Denn die anderen „Mithäftlinge“ geben sich nicht zu erkennen im täglichen Leben – so wie ich auch nicht aus Scham.“
  • „Wohin mit der Wut??? Auf einen Selbst, den Partner, der einem nicht bewahrt hat, der die tödliche Gefahr nicht gesehen hat oder nicht sehen wollte?“
  • „Wut auf das System, das Abtreibungen überhaupt erlaubt, ohne die Aufklärung über die Folgen! Diese sind tabuisiert oder werden geleugnet.“
  • „Wut auf die Institutionen, die als „Beratungsstelle“ getarnt auf arglose Opfer lauern, weil es für sie ein MORDS Geschäft ist.“

2.6.3  Studien

Ich zitiere aus einer Studie des Elliot Institutes. 260 Frauen von 15 bis 35 Jahren aus 35 verschiedenen Staaten der USA wurden zu ihrem Gefühlszustand nach der Abtreibung befragt.(14)

  • 92,60% der befragten Frauen leiden an starken Schuldgefühlen. 88,20 % leiden an Depressionen
  • 82,30 % haben ihr Selbstwertgefühl verloren 55,80% haben Selbstmordgedanken
  • 66% beendeten die Beziehung zu ihrem Sexualpartner nach der Abtreibung 40,60% begannen, Drogen zu nehmen
  • 36,50% flüchteten in den Alkohol

Eine aktuelle Studie von David M. Fergusson weist nach, das fast jede zweite Frau nach einer Abtreibung psychisch erkrankt. (15)

“Der enge Konnex zwischen Depressionen, Angstzuständen, Suizidgefährdung, Suchtverhalten und einer Abtreibung war selbst für die Autoren überraschend. Aus einer Gruppe von 1265 Mädchen der neuseeländischen Stadt Christchurch, die seit ihrer Geburt im Jahre 1977 beobachtet wurden, wurden 41 Prozent der Mädchen bis zum Alter von 25 Jahren schwanger. 14,6 Prozent ließen ihr Kind abtreiben. Von jenen 90 Frauen, die eine Abtreibung vornehmen ließen, entwickelten 42 Prozent innerhalb der nächsten vier Jahre eine schwere Depression. Auch der Drogen- und Alkoholmissbrauch stieg bei dieser Gruppe von Frauen signifikant an. Diese Verhaltensweisen und Erkrankungen könnten auf keine früheren Erlebnisse zurückgeführt werden“

Fergusson, Universität von Otago (Department Christchurch Health and Development Study)

Fergusson bezeichnete es als Skandal, dass „die psychischen Folgen eines Eingriffs, der bei jeder zehnten Frau durchgeführt wird, kaum studiert oder evaluiert werden.

Wie dramatisch die Folgen einer Abtreibung für Frauen sein können, zeigt auch eine finnische Studie von 1997(16): Eine dreifach erhöhte Suizidrate nach Abtreibung.

Im Scandinavian Journal of Public Health erschien in 2008(17) eine Langzeitstudie aus Norwegen: Vor allem junge Frauen, die abtreiben ließen, neigen später stärker zu Depression als andere. Die Ergebnisse der Studie, für die der Soziologe Willy Pedersen an der Universität Oslo 11 Jahre hindurch 768 Frauen im Alter zwischen 15 und 27 Jahren wissenschaftlich begleitet hat, zeigten außerdem, dass das Suchtverhalten (Alkohol und Drogen) bei jungen Frauen nach einer Abtreibung signifikant höher war als bei jenen, die sich für ihr Kind entschieden.(18)

Mitte August 2008 hatte die ‚American Psychological Association‘ APA, einen Bericht veröffentlicht, wonach es keine wissenschaftlichen Daten gebe, die den Zusammenhang zwischen Abtreibung und psychischen oder auch psychosomatischen Erkrankungen beweisen. Dem wurde unter anderem im Lancet, einer der führenden internationalen medizinischen Zeitschriften, widersprochen. Im Editorial(19) (2008; 372: 602) fordern die Autoren psychologische Beratung und Hilfe nach einer Abtreibung, da unter anderem das „Journal of Youth and Adolescence“ eine Studie veröffentlicht hatte, die psychische Probleme nach Abtreibung nachgewiesen habe.

Für Aufsehen in Deutschland sorgte auch ein Artikel der Wochenzeitschrift „Die Zeit“ in der Ausgabe vom 12.2.2009(2): „Wir haben abgetrieben – Welche Rolle spielen Männer beim Schwangerschaftsabbruch“. Am Beispiel eines Betroffenen, der anonym bleiben möchte, werden Seelenqualen, Hilflosigkeit und Wut deutlich. Die anderen erscheinen mit Bild im Artikel: „Die meisten sind über 40 Jahre alt, und sie schildern ganz subjektiv die Ereignisse, die oft lange zurückliegen. Sie alle sind heute von ihren damaligen Partnerinnen getrennt. Viele dieser Männer  waren vor der Entscheidung ambivalent wie die Frauen; sie sprechen von Reue, weil sie die Entscheidung ihrer Partnerin überlassen haben und das nun für einen Fehler halten. Mehrere Frauen hatten ihren Männern signalisiert:

„Hättest du nur deutlich gesagt, dass du dir ein Kind mit mir vorstellen kannst, ich hätte es bekommen.“ Einige Männer waren von dem eigenmächtigen Handeln der Partnerin wie vor den Kopf gestoßen. Einen brachte die Abtreibung so aus der Fassung, dass er Strafanzeige stellte, um sie zu verhindern, vergeblich. Zwei Männer sagten, nach der Abtreibung hätten sie plötzlich den Wunsch gespürt, Vater zu werden. Alle hat dieses Erlebnis verändert, es hat sie geprägt.

Wie sehr eine Abtreibung Männer berühren kann, weiß der Bielefelder Psychologe Wolfgang Neumann. Seit 15 Jahren hat er sich auf die Therapie von Männern spezialisiert, er hat darüber auch ein Buch geschrieben (Den Mann zur Sprache bringen, 2004). In seiner Praxis werden Abtreibungen häufig und meist unvermutet zum Thema.

„Männer reden zwar darüber, als ob es sie nichts anginge, und sie wissen auch wenig“, sagt er. „Aber innerlich sind sie stärker beteiligt, als sie gewöhnlich glauben. Selbst hinter einer emotionslosen Fassade steckt oft viel Wut über die eigene Ohnmacht. Und da sind auch Enttäuschung und Trauer über den Verlust.“(21)

Im Interesse der von der Verlusterkrankung nach Abtreibung, dem Post Abortion Syndrom betroffenen Frauen und Männer sowie ihrer geborenen Kinder und auch aus sozioökonomischen Gesichtspunkten sind eine vertiefte interdisziplinäre wissenschaftliche Analyse sowie das PAS integrierende Therapien dringend geboten.

Dr. med. Angelika Pokropp-Hippen
Münster, Januar 2017

Fußnoten

  1. Pokropp-Hippen, Das Post Abortion Syndrom, § 218 – Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug, Bundesverband Lebensrecht, Hrsg. B. Büchner, C. Kaminski, Verlag Dr.T.Schirrmacher,Bonn 2006, s.29.- 62
  2. Uni-Muenster, Psychologisches Institut, AE Dejong, VL_ss_04 / VL03.pdf, 1.2017
  3. F. Harder, W. Tschan, Die posttraumatische Belastungsstörung (PTSD) in der hausärztlichen Praxis, Erkennen – Verstehen – Behandeln ( Teil 1 ), SchweizerMedForum 2004,4: 392-395, 417-419
  4. Yehuda, Risk factors for posttraumatic stress disorder, American Psychiatric Press, Washington DC 1999.
  5. Kessler RD, Sonnega , Bromet E., Huges M., Nelson C.B., Posttraumatic stress disorder in the National Comorbidity Survey, ArchGenPsychiatry 1995, 52: 1048 – 1060
  6. F.Harder, W. Tschan, aaO. ( Fußnote 4 ), 395.
  7. Waldeyer, Anatomie des Menschen, Zweiter Teil, 13. Auflage 1975, S. 360
  8. G. Roth, Direktor des Instituts für Hirnforschung der Universität Bremen, Interview mit W.Irsch, Die Welt vom 10.09.2005.
  9. Krippner, B. Steiner, aaO. (Fußnote 1, S. 20): Die basalen Dimensionen von Trauma Verarbeitung und Symptomproduktion, Neuere Konzepte des psychischen Traumas.: Intrusionsphase
  10. Pokropp-Hippen, Das Post Abortion Syndrom, Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug, Bundesverband Lebensrecht, Hgg. B. Büchner, C. Kaminski, Verlag Dr. T .Schirrmacher Bonn 2006; S.29-62
  11. Angelika Pokropp-Hippen, Fußnote 10 und Wege zum Schattenkind, S. 184, Verlag fe-medien Kisslegg, 2014
  12. siehe Fußnote 11
  13. F. Harder, W. Tschan, aaO. (Fußnote 4), 396
  14. Reardon C., The Post Abortion Review, Elliot Institute 1994 oder Reardon D. C., Psychological reactions reported after abortion (www.afterabortion.org)
  15. M. Fergusson et al., Abortion in young women and subsequent mental health, Journal of Child Psychology and Psychiatry, 2006
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  19. The Lancet (2008), Women should be offered post-abortion psychological care. © 2008 Elsevier Ltd. doi: doi.org/10.1016/S0140-6736(08)61251-9
  20. Wir haben abgetrieben – Zeit.de 2009
  21. C. Kaminski, Ein Tabu unserer Zeit: Das Post Abortion Syndrom, 3, 4, 2009

Literaturverzeichnis

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Rachel Yehuda, Risk factors for posttraumatic stress disorder, American Psychiatric Press, Washington DC 1999

Kessler R.D., Sonnega A., Bronet E., Huges M., Nelson C.R.; Posttraumatic stress disorder in the National Comorbidity Survey; ArchGenPsychiatry 1995

Anton Waldeyer, Anatomie des Menschen, Zweiter Teil, 13. Auflage 1975 Gerhard Roth, Interview mit Wilhelm Irsch in “Die Welt” vom 10.9.2005

Angelika Pokropp-Hippen, Das Post Abortion Syndrom, Lebensschutz oder kollektiver Selbstbetrug?, Bundesverband Lebensrecht, Hrsg.: Bernward Büchner, Claudia Kaminski, Verlag für Kultur und Wissenschaft, Bonn 2006

Angelika Pokropp-Hippen, Wege Zum Schattenkind, 1. Auflage 2014, fe Verlag Kisslegg

D.C. Reardon, The Post Abortion Review, Elliot Institute 1994

David M. Fergusson et al., Abortion in young women and subsequent mental health. Journal of Psychology and Psychiatry, 2006

Gissler et al., Suicides after pregnancy in Finland, 1987-94: register linkage study. BMJ.

1997 Mar; National Research and Development Centre for Welfare and Health, STAKES, Helsinki, Finland

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